Ein Filmvortrag in Plößberg zu einem Jahrhundertprojekt der Glaskunst. „Strahlend schön und einmalig, jedes Fenster, ein außergewöhnliches Kunstwerk, farbenfroh und prächtig, Scheibe für Scheibe über 100.000 kleine bunte Glasquadrate bilden das flächenmäßig größte Glaskunstwerk, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geschaffen wurde.“
Dieser Satz, begleitet von ungewohnter Orgelmusik und faszinierenden Bildeindrücken aus dem Kirchenschiff einer mittelalterlichen Hallenkirche am Niederrhein, war kürzlich im Rathaus Plößberg zu hören. Er bildete den Auftakt eines bis auf den letzten Platz besetzten Filmvortrags, zu dem der OWV Plößberg und das Museumsteam um Benno Krottenthaler und Manfred Kopp eingeladen hatten. Der Referent, Rainer Schmitt, geschäftsführender Gesellschafter der Lamberts Glashütte Waldsassen zeigte darin unter anderem einen 25-minütigen Film, der die rund 80 Gäste allesamt in seinen Bann zog. Zwischen dem „Glaser“, wie er sich selbst nennt und dem Team des Glas- und Ofenbaumuseum in Plößberg besteht seit langem eine freundschaftliche Verbindung.
Die katholische Kirche St. Nicolai in Kalkar beherbergt mit ihren 22 einzigartigen Kirchenfenstern auf einer Fläche von 560 m² ein Meisterwerk der Glaskunst, das seinesgleichen sucht. Entworfen von Karl-Martin Hartmann wurden die Fenster Stück für Stück eines nach dem anderen in den Jahren 1997 bis 2020 mit mundgeblasenem Glas aus Waldsassen realisiert. Mit dem Einbau dieser bis zu 12 Meter hohen und 3 Mio. Euro teuren Kirchenfenster begann kunstgeschichtlich in St. Nicolai eine völlig neue Zeit.
Über Jahrhunderte hinweg prägten neun bedeutende Altäre das Bild der Kirche und machten sie zu einem heraus
ragenden Ort spätmittelalterlicher Kunst. Namen wie Heinrich Douvermann, Arnt van Tricht oder Meister Arnt van Zwolle stehen für eine Ära, in der sich wahre Meister der Schnitzkunst mit ihren Werken dort verewigten – geschaffen gegen Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts. Heute, rund 500 Jahre später, offenbarte sich im Rahmen einer Generalsanierung der Kirche eine neue künstlerische Herausforderung: Wie geht man es an, 22 Kirchenfenster zu gestalten, die nicht nur das Licht verändern, sondern auch die gesamte Raumwirkung einer zuvor schlicht mit Fensterglas ausgestatteten Kirche völlig neu definieren? Diese spannende Frage und der heraus
fordernden Aufgabe stellte sich der Glaskünstler Karl-Martin Hartmann, der als Mikrobiologe eigentlich aus der Naturwissenschaft kommt. Für Hartmann war es von Anfang an ein Ziel, mit den Fenstern eine Atmosphäre zu schaffen, die den Betrachter in den Raum zieht und ihm das Gefühl gibt, nicht mehr gehen zu wollen.
„Die Intention war von Anfang an, dass ein Gespräch zwischen den Fenstern und den Altären stattfinden kann. Das bedeutete, dass die qualitative Ebene vergleichbar sein muss.“, berichtet Karl-Martin Hartmann im Film.
Kirchenfenster ohne biblische Darstellungen
Diese Entscheidung wurde von der Kirche und dem Bistum mitgetragen, da die Kirche bereits ausreichend biblische Darstellungen enthielt. Stattdessen wurden die Fenster als Symbol für die Schöpfung und das Universum gestaltet. Hartmann ließ sich dabei von der Theorie von Richard Feynman, einem Nobelpreisträger und Physiker, inspirieren, insbesondere von den „Feynman-Graphen“, die in den Fenstern des Hochchors zu sehen sind. Die verwendeten Symbole stellen die Entstehung von Materie dar, beginnend mit den kleinsten atomaren Teilchen bis hin zu den Weiten des Kosmos. Besonders auffällig ist die künstlerische Freiheit, die Hartmann bei der Umsetzung dieser komplexen wissenschaftlichen Themen hatte. Die Symmetrie in den Fenstern wird bewusst gebrochen, um auch die menschliche Unvollkommenheit widerzuspiegeln.
„Die 228 Eichenfiguren des Hochaltars beschreiben in lebhafter Form die Leidensgeschichte Christi. Man kann erkennen und erspüren, wie sich die Farbenpracht der Fenster und die Schnitzkunst in den Eichenaltären ergänzen. Unendlicher Variationsreichtum in den Fenstern und in der Schnitzkunst des 15. und 16. Jahrhunderts. Fenster wie Botschaften, sie lenken den Blick auf die Details, aber auch auf die Größe des Universums. Die Fenster im Zusammenspiel mit den Schnitzaltären schaffen einen mystischen Kirchenraum voller Festlichkeit und Andacht.“, heißt es in dem Film.
Angrenzend an den Hochchor liegt der Marienchor – dort steht der berühmte Siebenschmerzen-Altar, ein Meister--werk von Heinrich Douvermann. In den angrenzenden Fenstern verändert sich die Bildsprache: Während in anderen Teilen der Kirche kleinste Teilchen und ferne Galaxien dargestellt sind, entfalten sich hier Hunderte Lilien in beeindruckender Größe. Dieses Fenster gilt als das aufwendigste im gesamten Ensemble. Die Lilie, seit jeher ein christliches Sinnbild für Reinheit und jungfräuliche Liebe, dominiert die Darstellung.
Das farbenfrohe Golgatha-Fenster mit „Paint It Black“ von den Rolling Stones
Die Fenster auf der Südseite von Sankt Nicolai zeigen erneut die große Vielfalt, mit der Hartmann überrascht. Einige Fenster sind mit blauen, andere mit roten Kreuzmotiven verziert. Das Fenster mit den roten Kreuzen, das als letztes eingebaut wurde, trägt den Namen „Golgatha-Fenster“, benannt nach dem Ort, an dem Jesus Christus gekreuzigt wurde. Der Künstler erklärte im Film, wie aufwendig dieses Fenster und die anderen sind: Tausende kleine Glasscheiben, jeweils 7 mal 7 cm groß, wurden in den Fenstern verarbeitet. Hartmann und der Projektleiter der DERIX Glasstudios in Taunusstein sind im Film zu sehen, wie sie gemeinsam am sogenannten „Glastisch“ stehen, wo sie das Projekt weiter verfeinerten. Bevor die kleinen Glasteile zu einem großen Fenster zusammengefügt werden können, ist der Weg lang und komplex. Zunächst wird das Glas ausgewählt und in die richtigen Maße zugeschnitten. Manchmal wird eine Folie aufgezogen, um das Glas anschließend mit Säure zu ätzen. In anderen Fällen kommt eine Airbrush-Technik zum Einsatz, bevor der Siebdruck das Design vervollständigt. Nach dem Zerschneiden der Glasstücke folgen schließlich die letzten kreativen Schritte.
Mit dem Golgatha-Fenster verfolgte Hartmann eine tiefere Bedeutung, die bei der Einweihung durch das Lied ‚Paint It Black‘ von den Rolling Stones, interpretiert vom Organisten der Kirche verstärkt wurde. Der Künstler erklärte: „Meine Wahl dieses Songs bei der Einweihung der letzten Fenster spiegelte wider, wie ich die derzeitige Situation der Kirche empfinde. Die Botschaft des Liedes – ‚Ich sehe so viel in der Welt, das mich erschüttert, deshalb möchte ich alles schwarz streichen‘ – passt zu meinen Gedanken. Doch gerade in den Fenstern gibt es auch viel Licht und Freude zu entdecken. Es geht nicht nur um die dunklen Seiten des Lebens, sondern auch um Versöhnung, Glauben und zwischenmenschliche Verbundenheit. Die Fenster sollen das zeigen, was uns als Menschen verbindet – jenseits von Macht und Konflikten.“ Hartmann betont, dass ohne das Ereignis von Golgatha, ohne den Tod Christi, weder die Auferstehung noch die christliche Lehre existieren würden. (siehe auch: https://stnicolai.de/dkf/kunstwerk/fenster-11/)
Ein bemerkenswertes Merkmal dieses Jahrhundertprojekts ist die Zusammenarbeit mit der Firma Lamberts Glas, die das mundgeblasene Echt-Antikglas herstellte, und den DERIX Glasstudios in Taunusstein nahe Wiesbaden, die die Fenster nach Hartmanns Entwürfen anfertigten. Dieser sorgfältige Herstellungsprozess, der sowohl traditionelle Techniken wie das Ätzen mit Flusssäure als auch moderne Kunstansätze miteinander vereinte, trug dazu bei, dass die Fenster zu einem außergewöhnlichen Kunstwerk wurden.
Für die Kirchengemeinde und in Kalkar ist das Projekt eine bedeutende Attraktion, die viele Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Besonders die detaillierte Farbgebung der Lamberts-Glasscheiben und das Spiel mit Licht, das je nach Jahreszeit variiert, machen die Fenster zu einem einzigartigen Erlebnis. Führungen durch die Kirche helfen den Besuchern, die tieferen Bedeutungen und Symboliken der Fenster zu verstehen und die künstlerische und spirituelle Absicht hinter den Arbeiten zu erfassen.
Nach diesem beeindruckenden Film vermittelte Rainer Schmitt den Gästen im Rathaus in Plößberg aus erster Hand noch viele interessante Einblicke zu mundgeblasenem Glas aus Waldsassen in der ganzen Welt, den synchronisierten Arbeitsabläufen und den besonderen Traditionen der Glasmacher, den handwerklichen Fertigungstechniken und „last but not least“ seinen Visionen und Vorhaben für die nahe Zukunft.
Neue Fenster für Waldsassen
Viele neue Fenster soll es bald auch für die historische Lamberts Ofenhalle in Waldsassen geben. Sämtliche Entwürfe der namhaften Künstler liegen bereits vor: Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Guy Kemper, um nur ein paar wenige aus dem „Who‘s Who“ der Glaskunst zu nennen. „Das wird ein einmaliger Ort auf der ganzen Welt“, verspricht Rainer Schmitt. „Man muss nur den Mut haben, etwas zu machen“. Bayerns Ministerpräsident Dr. Markus Söder hat sich für den Mai bereits zu einem Besuch in der Glashütte Lamberts in Waldsassen angekündigt. Für weitere Infos zu diesem Projekt siehe auch: www.derix.com/allgemein/ein-blick-hinter-die-kulissen